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Theater-Proteste

Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren, Historische Politikforschung 9

Erschienen am 16.04.2007, 1. Auflage 2007
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593383354
Sprache: Deutsch
Umfang: 389 S., .
Format (T/L/B): 2.6 x 21.2 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Die Frage, was politisches Theater ist, wurde in der Bundesrepublik seit den frühen 1960er Jahren kontrovers diskutiert. Auch für die 68er- Bewegung spielte sie eine wichtige Rolle. Dorothea Kraus rekonstruiert diese Auseinandersetzungen um das Politische, die im Theater, um das Theater und mit den Mitteln des Theaters geführt wurden. Im Zentrum stehen neben den theatralen Protesten der Außerparlamentarischen Opposition (APO) die Politisierung des Dramas, das Aufkommen des Regietheaters und die Forderung nach innerbetrieblicher Mitbestimmung. Ein Theater, dem die Gesellschaft politischen Charakter zugesprochen hätte, konnte sich auf Dauer freilich weder institutionell noch künstlerisch durchsetzen.

Autorenportrait

Dorothea Kraus, Dr. phil., promovierte an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld.

Leseprobe

Heinrich, du tust zuviel für deine Gage! - Der junge Schauspieler Heinrich Giskes, dem dieser Zuruf eines Kollegen gilt, ist nur mit Mühe zu bremsen. Er hat einen Schuh ausgezogen und zielt damit von der Bühne herab auf einen Zwischenrufer im Publikum. An diesem 14. Januar 1969 kocht an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer die Stimmung hoch. Selten zuvor ist ihre programmatische Selbstbezeichnung >Zeitgenössisches Theater< so sehr Ausdruck eines konkreten Theaterereignisses geworden. Die Premiere von Peter Weiss' Viet Nam Diskurs hat kaum das Ende des ersten Teils erreicht, als die überwiegend jüngeren Zuschauer voller Empörung einzugreifen beginnen. Ihren Unmut ruft vor allem der revueartige, scheinbar oberflächliche Stil hervor, in dem sich zweieinhalb Jahrtausende vietnamesischer Unterdrückungsgeschichte auf der dekorationslosen, nur vom Grau der nackten Wände, der Eisenleitern und Beleuchterbrücken umrahmten Bühne präsentieren. Mit ihrer bewegungsreichen, tänzerischen Bühnenchoreographie folgt die Inszenierung weniger dem dokumentarischen Anspruch des Dramentextes als der ebenfalls in ihm angelegten "eigentlich ungeschichtliche[n], rituelle[n] Darbietung". Der Kabarettist Wolfgang Neuss, der als Conférencier und Kommentator die Vorstellung begleitet, bekommt den Protest als Erster zu spüren. Reaktionsschnell versucht er, Zwischenrufe von der Bühne abzuwehren. "Komödiantische Volkshochschule" nennt er von sich aus einlenkend und zugleich distanzierend den Schnelldurchlauf durch die Geschichte Vietnams. Einen Zuschauer, der seine Einwürfe als "Scheißgeschwätz" bezeichnet, lädt er spontan ein, auf die Bühne zu kommen: "Na, komm rauf, Kleiner, kannst mitspielen." Die Einladung wird angenommen, aus einer anderen Ecke des Zuschauerraums allerdings prompt gekontert: "Störungen bitte erst im 2. Akt. Das ist jahrhundertealte Tradition." Zwar bleibt der junge Mann nicht lang auf der Bühne. Der Saal beruhigt sich jedoch erst wieder, als der zweite Teil des Stücks die amerikanische Vietnam-Politik der Gegenwart an den Pranger stellt. Die Aufführung kann zu Ende gebracht werden. Offensichtlich stieß vor allem die theatrale Darbietung des Themas auf Widerstand, nicht aber die amerikakritische Ausrichtung des Stücks. Mochte auch die Mehrheit der westdeutschen Bürger am Prinzip der uneingeschränkten Solidarität mit der >Schutzmacht< USA festhalten - gerade in West-Berlin und gerade unter jüngeren Menschen wies diese Solidarität schon länger deutliche Risse auf. Seit Beginn des offenen militärischen Engagements der Amerikaner in Nordvietnam im August 1964 hatte in der Bundesrepublik der Protest insbesondere studentischer Gruppen gegen die amerikanische Vietnam-Politik vielfältige Formen angenommen. Die Antivietnamkriegsproteste in den USA wirkten in diesem Zusammenhang als Aufforderung und Vorbild zugleich. Ein Höhepunkt wurde am 17./18. Februar 1968 mit dem Internationalen Vietnam-Kongress in West-Berlin erreicht. Er fand in den Räumen der Technischen Universität statt und versammelte nicht nur Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), sondern auch zahlreiche Vertreter linker Gruppen aus anderen Ländern (Großbritannien, Frankreich, Italien, USA). Für viele Teilnehmer war die Abschlussdemonstration des Kongresses, bei der die Demonstranten, zu rhythmischen Wellenbewegungen "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh" rufend, durch die Straßen Berlins zogen, Inbegriff internationaler Solidarisierung und politischer Klimaveränderung. Vom Erlebnis dieses Kongresses geprägt, hatten auch die Viet Nam Diskurs-Regisseure Peter Stein und Wolfgang Schwiedrzik die Ho-Chi-Minh-Rufe in ihre Inszenierung übernommen. Von der politisch-sinnlichen Protestdynamik des Vietnam-Kongresses jedoch war Anfang 1969 im Zuschauerraum der Schaubühne wenig zu spüren.

Inhalt

Inhalt Prolog9 I. Einleitung13 II.Politisierungsprozesse: Das westdeutsche Berufstheater nach 194535 1.Das Feld des Theaters in den fünfziger Jahren38 Theatersystem und Spielplanentwicklung - Dichterwort und Werktreue - Klassizistische Humanität 2.Politisches Theater im Deutungskampf65 Studententheater - Politische Dramatik - ''Theater der Revolution'' III.Mobilisierungsstrategien: Die Außerparlamentarische Opposition104 1. Kunstkritik und Kulturrevolution: Leitideen und Aktionsformen108 Aufklärung und Aktionismus - Selbstverwirklichung und Selbstverwaltung - Revolution im Kulturbereich 2. Parallelaktionen: Theaterkritik als Mobilisierungsfaktor132 Protest gegen die Notstandsgesetze - Viet Nam Diskurs - Theater zwischen Pop Art und Gesellschaftsanalyse IV. Gegenkultur oder ''gegen Kultur'': Theatrales Handeln als Kritik in der Aktion169 1. Happenings170 Theatrale Aktion als Performance - Die Ambivalenz des Politischen 2. Straßentheater203 Agitprop - ''Representational action'' - Rehabilitation der Sinnlichkeit V. Inszenierung und Institution: Aspekte politischen Theaters233 1. Aufklärung durch Aktion? Peter Zadek und Hansgünther Heyme234 Collagierte Klassiker I: Maß für Maß - Collagierte Klassiker II: Wallenstein 2. ''Zeitgenössisches Theater'': Claus Peymann und die Schaubühne268 Claus Peymann und das Theater am Turm - Die Schaubühne am Halleschen Ufer (1962-1969) - Analyse der bürgerlichen Befindlichkeit: Peter Stein 3. Wider die ''Zuhälter im Hausvaterrock'': Demokratisierung im Theater der frühen siebziger Jahre302 Initialisierungsphase - Zuspitzungs- und Stabilisierungsphase - Institutionalisierungsphase VI. Theater zwischen Politisierung und Entpolitisierung: Resümee und Ausblick in die siebziger Jahre347 Abkürzungsverzeichnis355 Quellen und Literatur357 Dank388

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Historische Politikforschung