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Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz

Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Campus Historische Studien 47

Erschienen am 10.11.2008, 1. Auflage 2008
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593387611
Sprache: Deutsch
Umfang: 455 S., 6 s/w Fotos
Format (T/L/B): 3.1 x 21.5 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Als Instrument des Obrigkeitsstaates bezeichnete Sebastian Haffner die deutsche Justiz Anfang der 60er Jahre und forderte 'eine Reform an Haupt und Gliedern'. Haffner stand damit nicht allein. In den Fokus geriet die deutsche Justiz in der Folge auch durch die Prozesse gegen die Aktivisten der 68er-Proteste. Jörg Requate untersucht die Kritik in den Medien, aber auch die Einstellungen der Richter selber zum Rechtssystem der Bundesrepublik. Deutlich wird, dass der Kampf um die Reform der Justiz eng verknüpft war mit den gesamtgesellschaftlichen Reformbestrebungen, Hoffnungen und Befürchtungen in einer Zeit des Umbruchs.

Leseprobe

Am Vormittag des 7. November 1968 ging während des CDU-Parteitags in Berlin eine junge Frau auf den Platz des Bundeskanzlers Kiesinger zu, scheinbar in der Absicht, sich ein Autogramm zu holen. Doch war es alles andere als Bewunderung, was Beate Klarsfeld dem ehemaligen NSDAP-Mitglied entgegenzubringen dachte. Mit den Worten "Nazi, Nazi" schlug sie ihm ins Gesicht, um, wie sie später sagte, die Nazi-Vergangenheit des Kanzlers ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die in Berlin geborene, inzwischen deutsche und französische Staatsangehörige, frühere Sekretärin des deutsch-französischen Jugendwerks, wurde sofort dem Haftrichter vorgeführt und noch am selben Abend in einem gerichtlichen Schnellverfahren zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt. Das war die höchste Strafe, die in einem beschleunigten Verfahren überhaupt möglich war. Im Prozess sagte Beate Klarsfeld aus, es sei immer ihre Absicht gewesen, Herrn Kiesinger zu einem Prozess zu zwingen und so eine Klärung seines Verhaltens im "Dritten Reich" herbeizuführen. Doch diesen Gefallen tat das Gericht der Angeklagten nicht. Den entsprechenden Antrag des Verteidigers Horst Mahler lehnte der Amtsrichter Drygalla mit Hinweis auf "Prozessverschleppung" ab.^ Dabei erfüllte der Amtsrichter keineswegs das Klischee eines vielleicht noch in der NS-Zeit tätigen Richters. 1930 geboren, hatte er seine politische und juristische Sozialisation in der Bundesrepublik erhalten und wurde von den Zeitungen als durchaus wohlwollend und freundlich beschrieben. Er ließ die Angeklagte stets ausreden, blieb auch ruhig, als ihm vorgeworfen wurde, alte Nazis zu decken, und billigte der Angeklagten sogar zu, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied als Regierungschef für untragbar zu halten. Entscheidend für die Beurteilung der Tat sei jedoch, so der Richter in seiner Urteilsbegründung, dass wieder einmal versucht worden sei, eine politische Überzeugung mit Mitteln der Gewalt zu vertreten. Derartiges müsste angesichts der deutschen Vergangenheit im Keim erstickt werden. Für die APO bestätigte das Urteil einmal mehr das, was man ohnehin von der Justiz erwartete: Beate Klarsfeld wurde gefeiert, das Urteil als "typischer Fall von Klassenjustiz" und "symptomatisch für die Justiz" angesehen. Aber auch in der liberalen, bürgerlichen Öffentlichkeit stieß das Verfahren auf erhebliches Unbehagen. Schriftsteller protestierten, die Münchner Abendzeitung sprach von einem "Terrorurteil" und auch die FAZ empfand das Urteil als unangemessen und deutlich zu hoch. Das politische Bonn schwieg betreten. Horst Ehmke, zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär im Bundesjustizministerium, gab vor, die Gerichte nicht bevormunden zu wollen. Max Güde, CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Generalbundesanwalt, behauptete, als ehemaliger Richter und Staatsanwalt sich grundsätzlich nicht zu Urteilen zu äußern. Befragte Rechtsanwälte gaben nüchtern zu bedenken, dass ein nicht vorbestrafter Angeklagter kaum mehr als drei Monate auf Bewährung erhalte, wenn er jemanden "krankenhausreif" schlage. So hatte das Urteil zwar in der nächsten Instanz tatsächlich keinen Bestand, doch vier Monate auf Bewährung blieben auch in dem zweiten Verfahren noch. Erst das Amnestiegesetz aus dem Jahr 1970 löschte die Strafe ganz. Ein paar Jahre später machte noch einmal ein Ohrfeigen-Prozess Schlagzeilen. Im Jahr 1974 war es der konservative Fernsehmoderator Gerhard Löwenthal, der sich eine Ohrfeige gefallen lassen musste, und zwar von dem Bremer Studenten Horst Wesemann. Doch statt einer einjährigen Gefängnisstrafe, wie Beate Klarsfeld in erster Instanz, erhielt der junge Mann nun lediglich eine Geldbuße von DM 150. Für diesen Preis würde er gerne auch einmal dem Moderator des Fernsehmagazins Panorama eine Ohrfeige verpassen, ließ ein Dr. Gabriel die zuständige Richterin telefonisch wissen, und ein anderer Anrufer wollte gleich der Richterin selbst "für 150 Mark mal eine runterhauen". Wellen der Empörung schlug jedoch nicht nur das Urteil, sondern

Inhalt

Einleitung 1. Zwischen politischem Zölibat und konservativer Konsolidierung - Die Justiz in den fünfziger Jahren 1.1 Der Wunsch nach einer "entfesselten" Justiz. Die Auseinandersetzung um die Selbstverwaltung der Justiz 1.2 Das Bundesverfassungsgericht erobert seinen Platz 1.2.1 Die Gründungskrise des Verfassungsgerichts 1.2.2 Naturrecht und Staat als Werte oberhalb der Verfassung? 1.3 Reformbestrebungen in restaurativer Absicht: Die Forderung nach einer großen Justizreform 1.4 Arbeitsgerichtsbarkeit und Verfassung 1.5 Zwischenbilanz: Justiz am Ende der fünfziger Jahre 2. Skandale und Kritik - Die Justiz in den sechziger Jahren 2.1 Wachsende Kritik an der Justiz in der "politischen Öffentlichkeit" 2.1.1 Die Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit der bundesdeutschen Justiz 2.1.2 Wie rechtsstaatlich agierte die bundesdeutsche Justiz? 2.1.3 Gute Zeiten für Michael Kohlhaas: Skandalträchtige Prozesse und radikale Justizkritik 2.1.4 Mit einem NS-Gesetz gegen den Sittenverfall: Der Frauenarzt Dr. Dohrn vor Gericht 2.2 Der Richter im Blickfeld soziologischer Untersuchungen 2.3 Zwischen Abschottung und Öffnung: Reaktionen aus der Richterschaft 2.3.1 Generationeller Umbruch 2.3.2 Die politische Öffentlichkeit als Bedrohung der "Sache der Justiz" 2.3.3 Selbstkritik und Reformforderungen 2.4 Justizpolitik 2.5 Zwischenbilanz: Zur Entstehung eines Reformklimas 3. Die Justiz im Fahrwasser der Demokratisierungsforderungen 3.1 Die Herausforderung durch die Demonstrationsprozesse 3.1.1 Die Demonstrationsprozesse als (verfassungs-)rechtliche Herausforderung 3.1.2 "Die Verfolgung und Ermordung der Strafjustiz durch die Herren Teufel und Langhans" 3.1.3 Die Demonstrationsprozesse als rechts- und justizpolitische Herausforderung 3.2 Reformforderungen als Standes- und Gesellschaftspolitik 3.1.1 Richter auf den Barrikaden: Linksschwenk oder Besoldungskampf? 3.1.2 Bewegung in den Organisationen und Organisationsformen 3.1.3 Forderungen nach strukturellen Reformen innerhalb der Justiz 3.3 Auf dem Weg zum neuen Juristen 3.1.1 Der Aufstieg der Rechtssoziologie 3.1.2 Zukunftsmodell "politischer Richter"? 3.1.3 Die einphasige Juristenausbildung - Zur Pathologie der Reform 3.4 Zwischenbilanz: Die kurze Hegemonie des Reformdiskurses 4. Klimawechsel und langfristige Veränderungen 4.1 Zurück aus der Defensive: Die konservative Haltung zu den justizpolitischen Reformplänen 4.2 Der "politische Richter" als Politikum. Sozialdemokratische Personalpolitik in der Kritik 4.3 Justizreform: ohne Ende - ohne Ziel? 4.4 Konfrontationen und Neuorientierungen im juristischen Feld 4.5 Zwischenbilanz: Rechtsdenken im Zeichen gesellschaftlicher Polarisierung 5. Schluss Literatur Danksagung Personenregister Sachregister

Schlagzeile

Campus Historische Studien Herausgegeben von Rebekka Habermas, Heinz-Gerhard Haupt, Frank Rexroth, Michael Wildt und Stefan Rebenich