0
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783627002107
Sprache: Deutsch
Umfang: 320 S.
Format (T/L/B): 3 x 21 x 13.8 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Holle fotografiert Städte. Ein Künstlerstipendium führt sie nach Istanbul, eine schmerzhaft schöne Stadt, wo sie eine Liebesbeziehung mit dem Türken Celal beginnt. Und sie begegnet Christoph Wanka. Der reiche Unternehmer repräsentiert alles, was Holle ablehnt, und doch kann sie sich nicht von ihm lösen. Als Holle schließlich einwilligt, dass Wanka ihr eine Reise nach Mumbai ermöglicht, beginnt ein Kräftemessen, das sie zwingt, ihren eigenen Lebensentwurf zu hinterfragen. Hals über Kopf verlässt sie Mumbai. In Holles verlassene Wohnung zieht Theresa. Die deutsche Journalistin kennt die alles verschlingende Metropole, in der das Überleben für viele Menschen nur am Zufall hängt. Und auch sie trifft auf Wanka. Während Theresa in Mumbai nach und nach in eine Stellvertreterrolle gleitet, die weiter reicht, als es in ihrer Absicht liegen könnte, möchte Holle im labyrinthischen Körper Istanbuls am liebsten verloren gehen. Als die Demonstrationen im Gezi-Park die Strukturen der Stadt selbst zum Bröckeln bringen, scheint die Gelegenheit günstig.

Autorenportrait

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln und lebt heute in Berlin. Für ihren Debütroman 'Schwester und Bruder' (2003) erhielt sie den Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, den Jürgen-Ponto-Preis für das beste Romandebüt und das Rolf-Dieter Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln. Ihr dritter Roman 'Der kleine Rest des Todes' erschien 2012 in der Frankfurter Verlagsanstalt und wurde auf Platz 5 der SWR-Bestenliste gewählt. 2016 erhielt Lenze für ihr Gesamtwerk den 'Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft'. Ulla Lenze war Gast am Atelier Galata in Istanbul und verbrachte neun Monate als Writer-in-residence in Mumbai auf Einladung des Goethe-Instituts und der Kunststiftung NRW.

Leseprobe

Es gab eine Zeit, da wollte sie absolut nichts haben. Vielleicht ist diese Zeit auch noch gar nicht vorbei. Seit sie in Istanbul lebt, muss alles, was sie je gedacht hat, noch einmal anders gedacht werden, und damit hat sie noch nicht einmal angefangen (weil ja alles im mer noch stattfindet). Und es liegt vielleicht sogar an dieser vielgerühmten Istanbuler Verschmelzung von Orient und Okzident - oder an einer anderen Verschmelzung. Hat sie nicht immer geglaubt, sie brauche jemanden zum Reden, zum Austausch? Durch Celal gerät sie in genau jenen Zustand, zu dem das Reden wohl hinführen soll: sich verstanden und geborgen zu fühlen. You want sleep? Are you sad? You want to go home?, vergewissert er sich nach langen Ausführungen ihrerseits. Er antwortet eher auf das Gefühl, aus dem heraus sie mit ihm spricht, ein Gefühl, das ihr oft erst bewusst wird durch sein Nachfragen. Dass sie nicht reden können, ist befreiend. Einmal, sie sitzen am Küchentisch der Künstlerresidenz, bekommt sie diesen Wutanfall. Celal begreift offenbar nicht - hat er es vergessen? Nie verstanden, nie gewusst? -, dass sie mit einem wichtigen Künstlerstipendium in Istanbul ist, eine Auszeichnung, eine Ehre. Er hat sie gefragt, wie viel sie für ihre Wohnung zahlt. 'Nothing', schreit sie. 'Nothing! I am invited!' Er zuckt erst zurück vor so viel Wut. Dann schlägt er sich an die Stirn, als sei endlich der Groschen gefallen, und sagt mit einer Stimme, mit der man Kleinkinder lobt: 'Yes, I know, you are big artist. I am very sure you are.' Er sagt es liebevoll. Immer liebevoller. Er steht auf und nimmt sie in den Arm. Sie fängt an zu weinen. Sie lacht. Er hält sie fest umarmt. Er streicht über ihr Haar. Er kennt sich aus mit Schmerz und Furcht. In der Stadt ist sie nie ohne ihn, selbst wenn sie allein loszieht. Sie taucht in die Straßen ein wie in einen gemeinsamen Körper. Manchmal sehr konkret. In der Gegend um das Döner Paradise herum kann sie nirgends mehr essen gehen. Du bist doch Celals Freundin, nein nein, du bist eingeladen. Auch um den Taksim-Platz, wo Celal geschäftlich zu tun hat, gibt es Zonen, in denen sie nicht bezahlen darf. 'Friends. No pay, of course not.' Ein System, das auf Gegenseitigkeit beruht? Ja, durchaus, aber wie merken die sich das? Merken sie es sich? Manchmal stürmt jemand in Celals Imbiss und bereitet sich hinter der Theke ein Sandwich zu. Celal lacht. 'Good customer. I don't need to work.' Celal sitzt oft an einem der drei Bistro tische und trinkt Tee. Springt aber sofort auf, wenn ein echter Kunde vorbeikommt. Das sind die, die er bislang nicht kennt. Sie werden früher oder später zu Freunden. Auf Facebook hat er bald die 5000-Freunde-Grenze erreicht. Die Touristen, sind sie anständig, zahlen natürlich. Sie stopfen ihm die Lirascheine in die Schürzentasche. Daran erkennt sie, dass er kein Verhältnis zu Geld hat, Geld ist etwas, das notgedrungen ebenfalls im Döner Paradise vorkommt, etwa wie das Frittierfett oder das Spülmittel. Zwar stöhnt er manchmal über die langen Arbeitszeiten, aber es wirkt, als übernehme er aus Höfl ichkeit das übliche Gejammer, um nicht als zu glücklich aufzufallen. Das Döner Paradise ist sein Zuhause, seine eigene Stammkneipe. Vor drei Jahren hat er das kleine Lokal für etwa einhunderttausend Euro gekauft, inzwischen, durch die Sanierung der Altstadthäuser ringsum und die zentrale Lage, bietet man ihm das Doppelte. Celal sitzt auf einer Goldmine, aber der Gewinn ist gleich null. Sie kann nicht abschätzen, wie ernst die Lage wirklich ist und ob sie vielleicht helfen kann. Sie entwickelt Geschäftspläne, die aber ihren eigenen Vorlieben entsprechen: Warum machst du aus deiner Dönerbude keinen vegetarischen Imbiss mit anatolischen Gemüseeintöpfen, das ist bestimmt eine Marktlücke, die gesundheitsbewussten westlichen Touristen wären begeistert. Aber sie spricht wohl wirklich nur von sich selbst. Sie ist froh, dass Celal darauf nicht anspringt, denn dann müsste sie womöglich die Sache mit ihm gemeinsam durchziehen. Er